Lagerwechsel: Von „links“ nach „rechts“
Der Lesekreis „Hannes Hofbauer – Kritik der Migration“ enthält die Ankündigung, sich mit dem 2018 erschienenen Buch des österreichischen Publizisten und Verlegers Hannes Hofbauer „Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert“ zu beschäftigen:
„Was Wagenknecht und andere Renegaten der liberalen, multikulturalistischen Linken gelegentlich andeuten, bringt der Autor klar auf den Punkt: Massenmigration und globale Mobilmachung des Menschen als ,homo migrans‘ sind auch mit einem orthodox linken Gesellschaftsbild unvereinbar“.
Dieses Zitat lässt erahnen, dass es eine Schnittmenge zwischen der GegenUni und ihrem politischen Gegenüber gibt. Tatsächlich veröffentlichte die Hochschulgruppe Linke Liste (LiLi) auf ihrer Facebook-Seite am 24. Juni 2021 einen Beitrag, worin sie eingestand, dass der Betreiber der GegenUni früher Mitglied in DIE.LINKE.Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband (DIE.LINKE.SDS) und später auch bei ihr selbst gewesen sei. Wegen seiner „reaktionären Ansichten“ habe man den Betreiber der GegenUni im März 2020 ausgeschlossen. Die LiLi stellte klar, dass der GegenUni-Betreiber „nicht mehr nur ein obskurer Akteur ist, mit dem wir nicht mehr kooperieren, sondern ein politischer Klassenfeind“.
Dass ein Angehöriger der linksextremistischen Szene ins gegnerische Lager wechselt, ist für Linksextremisten angesichts des für sie eminent wichtigen Themas „Antifaschismus“ („Kampf gegen Rechts“) sicherlich eine Provokation. Allerdings ist diese „Grenzüberschreitung“, wie der Fall Horst Mahler als eines der prominentesten Beispiele dieses Phänomens zeigt, keineswegs singulär bzw. neu. Diese für Linksextremisten offensichtliche Brüskierung erreicht darüber hinaus eine noch größere Dimension, da der Begriff „GegenUni“ eigentlich aus ihrem Vokabular bzw. Spektrum stammt. So hieß es am 29. Oktober 2012 auf einer Internetseite über das Institut für Vergleichende Irrelevanz (IvI), das bis zu seiner polizeilichen Räumung (2013) von der autonomen Szene unterstützt wurde:
„Die ,Gegenuni‘ funktioniert [...] als eine Art ,bessere Uni‘, die sich fast ausnahmslos aus akademischem Personal rekrutiert, das akademische Inhalte diskutiert. Anspruch dabei ist jedoch, Formen der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen gemeinsam zu erarbeiten, die eine größtmögliche Teilhabe zum Ziel haben. [...] Mit der Gegenuni wollen wir einen Beitrag zur Kritik leisten und strukturelle Hintergründe offenlegen und hinterfragen“.
Das Ziel: vom „rechten Exil“ zur „rechten Handlungsfähigkeit an den Hochschulen“
„Der Weg zur Rückeroberung der Uni“ führt laut Martin Sellner in seinem Sezession-Artikel „zuerst ins Exil der Gegenuniversität“, die in einer ersten Phase als „digitale Lernplattform“ etabliert werden soll. Ein „wachsendes Angebot an Seminaren und Lesekreisen zu rechten Themen“ soll in „Livestreams nach einem festen Lehrplan“ oder „nach eigener Geschwindigkeit digital durchgearbeitet werden“. Durch ein kostengünstiges, aberkostenpflichtiges Angebot solle dem akademischen Leben in „Unsicherheit und Existenzängsten“ entgegengewirkt werden. Damit sei ein „kleiner Anreiz für junge Rechte“ verbunden, einen „geisteswissenschaftlich-metapolitischen Lebensweg“ einzuschlagen:
„Das langfristige und ambitionierte Ziel des Projekts ist die Organisation und Vernetzung der eingetragenen Studenten, um eine rechte Handlungsfähigkeit an den Hochschulen zu erreichen. [...] So kann in weiterer Zukunft sogar ein eigenes Curriculum und ein eigenes, neurechtes ,Diplom‘ entstehen. Das würde in der jetzigen Lage natürlich von keiner Uni anerkannt, doch die Lage kann sich ja ändern…“.
Misslinge es, das „Ausbluten des akademischen Potentials auf der politischen Rechten in metapolitisch einflußschwache Berufsfelder zu stoppen“, bleibe, so Sellner,
„der geistige Raum der Nation fest in der Hand des Gegners. Ändert sich daran nichts, wird – das ist meine Befürchtung – jede populistische Protestwelle, von Trump über Strache und Le Pen bis hin zu Zemmour, folgenlos brechen“.
Von der Neuen Rechten und der GegenUni ausgehende Gefahren
„Intellektualisierungsbemühungen in der rechtsextremen Szene haben eine lange Tradition. Sie sind aber von wenig Erfolg gekrönt und führen ein Schattendasein“. So lautete 2008 der möglicherweise damals beruhigende Befund des von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen Artikels „Braune Theorieschulen im Umfeld der NPD“. Ebenso urteilte das BfV in seinem Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2008, dass es keiner der im Spektrum des intellektuellen Rechtsextremismus zu verortenden Gruppierungen gelungen sei,
„auch nur ansatzweise ihr Ideal [zu] erreichen, durch Bildung, Schulung oder Publikationen gesellschaftliche Diskurse zu bestimmen oder an öffentlichen Diskussionen mitzuwirken“.
Heute spricht sogar Resignation aus der Analyse Michael Brücks, eines Angehörigen der Partei DIE RECHTE, als er während eines auf YouTube veröffentlichten Livestreams (datiert vom 10. November 2021) im Gespräch mit Frank Franz, dem NPD-Bundesparteivorsitzenden, sagte: Die „Rechte“ brauche einen „radikalen Umbruch“; man müsse einen Schlussstrich unter die Politik der letzten zehn Jahre, in denen man nur „Verwaltung betrieben“ habe, ziehen. Ein maßgeblicher Grund für den Niedergang liege darin, dass sich viele Leute nunmehr als Teil eines „Mischlagers“ betrachteten, das von der „Mitte der AfD bis nach ganz weit außen“ reiche. Auch Martin Sellner merkt in seinem Sezession-Artikel selbstkritisch an, dass sich die „Rechte erst außerhalb der Hochschulen organisieren und konsolidieren [müsse], bevor sie sich an die Rückeroberung machen“ könne.
Tatsächlich stellt der Rechtsextremismus/-terrorismus zurzeit die größte Bedrohungslage dar; das „rechte Lager“ ist keineswegs ungefestigt, sodass sich rechtsextremistische Bestrebungen rascher, als angeblich selbst von dessen Protagonisten erwartet, entfalten können. Dies offenbart ein Seitenblick ins europäische Ausland, aber auch ein direkter Blick auf die Dynamik, die in Deutschland zum Beispiel dem (mitunter extremistischen) Protestgeschehen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie innewohnt. Im Lager der „Corona-Leugner“ sind krude Verschwörungsnarrative weit verbreitet, es herrscht ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen und etablierten Medien vor, die Grenze zum rechtsextremistischen Spektrum wird immer durchlässiger. Außerdem haben sich längst gefährliche Unebenheiten und Risse in unser gesellschaftlich-politisches Fundament eingeschlichen. So wurde die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19“ im April 2019 – also vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie – mit folgendem Satz angekündigt:
„Deutschland ist in Unruhe. Hass, Abschottung und Gewalt stehen Solidarität und zivilgesellschaftlichem Engagement gegenüber. Rechtsextreme Gruppen treten öffentlichkeitswirksam an der Seite ,normaler‘ Bürgerinnen und Bürger auf, rechtspopulistische Forderungen und Diskurse erhalten scheinbar immer mehr Raum in Politik und Debatte“.
Blickt man noch weiter bis auf das Jahr 2015 zurück, in dem mit dem sogenannten Flügel ein einflussreicher mitglieder- bzw. anhängerstarker rechtsextremistischer Personenzusammenschluss innerhalb der AfD entstand, verstärkt sich dieser Eindruck: Beeinflusst von rechtsextremistischen Akteuren, sind Sprache und Denken, somit das Handeln von Gruppierungen, Parteien und Einzelpersonen, seit Jahren in Teilen der Gesellschaft auf dem Weg in die Verfassungsfeindlichkeit. Es bedarf aus Sicht der Neuen Rechten bzw. der GegenUni nunmehr einer „einheitlichen Weltsicht und einer verbindlichen Theorie“, um dieser Bewegung einen gemeinsamen Nenner und folglich einen noch größeren – theoretisch begründeten – Impetus zu verschaffen.
Rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse, das heißt vor allem Parteien, haben es zwar bislang nicht vermocht, entsprechende Vorfeldorganisationen an den Hochschulen zu etablieren, Einzelpersonen sind aber sehr wohl als Studierende und Dozenten präsent. So erklärte ein an einer Universität lehrender Wissenschaftler, der dem aufgelösten Flügel zuzurechnen ist, gegenüber verschiedenen Medien im Juli 2021: „,Uns fehlt das kulturelle Selbstbewusstsein‘“. Ebendies gilt es aus Sicht der Neuen Rechten im rechtsextremistischen Sinne herzustellen.
Im Unterschied zu etlichen anderen extremistischen/terroristischen Gefährdungen geht von der Neuen Rechten (und damit auch der GegenUni) keine plötzlich virulente, das heißt unmittelbar spürbare Gefahr aus. Mehr denn je versucht die Neue Rechte aber, in einem seit Jahren „unruhigen“ Land rechtsextremistische Inhalte und Begriffe in die demokratische Mehrheitsgesellschaft zu transportieren und dort zu verwurzeln, so etwa, wenn der Verlag Antaios verschiedentlich auf der Frankfurter Buchmesse zugegen war. Ziel der Neuen Rechten bzw. der GegenUni ist es also, ähnlich wie es der NSDAP-Funktionär Walter Groß 1933 im Rahmen der Bücherverbrennungen formulierte, einen möglicherweise lange dauernden „geistigen und seelischen Umbildungsprozeß“ anzustoßen, um schließlich die „kulturelle Hegemonie“ und damit die politische Macht zu erringen.
Zu den Instrumentarien dieses schleichenden Prozesses gehört es, wie Martin Sellner bereits im Mai 2019 in der Zeitschrift Sezession ausführte, „durch gezielte Beeinflussung und Infoarbeit“ den „Rand des Sagbaren“ (das „Overton-Fenster“) nach „rechts“ zu verschieben. Dies betrifft etwa Begriffe/Inhalte wie „Ethnopluralismus“, „Reconquista“, „Jugend ohne Migrationshintergrund“, „Konservative Revolution“, „Festung Europa“, „Grenzen schließen“ und „Großer Austausch“, die in den allgemeinen Sprachgebrauch und das Denken der demokratischen Mehrheitsgesellschaft einsickern und sich dort festsetzen sollen. In dem Beitrag „Was fehlt: ein neurechtes Kontinuum“ kritisiert Sellner, dass sich das Fenster des Sagbaren ständig nach „links“ bewege und fordert, eine gegenläufige Bewegung einzuleiten:
„Wenn eine These in den Brennpunkt des ,Aktuellen‘ gerät und zur akzeptierten ,gesellschaftlichen Frage‘ wird, liegt ihre politische Umsetzung nicht mehr fern. Meinungen, die aus dem Vertretbarkeitsrahmen fallen, drohen hingegen brutale Konsequenzen. Sie gelten als unsagbar, werden emotional mit ,Unreinheit‘, ,Krankheit‘ und moralischer Verwerflichkeit assoziiert. Die Vertreter dieser Meinung werden folglich sozialer Ausgrenzung, wirtschaftlichen Boykotten, Gewalt und Terror ausgesetzt. Führt das ,Herausfallen‘ aus dem Overton-Fenster und dieser Druck nicht zu einem Verschwinden dieser Meinungen und ihrer Vertreter, folgen in der Regel Kriminalisierung und juristische Verfolgung. Das Bestreben des kulturellen Hegemon ist es, diese ,unsagbaren‘ Ideen und Gruppen in diesem Zustand zu halten, um das Zentrum zu stabilisieren“.
Insgesamt ist die Gründung der GegenUni die logische Konsequenz des bislang nur schriftlich in zahlreichen Publikationen fixierten Konzepts der „metapolitischen Reconquista“.
Die Historiker Eberhard Kolk und Dirk Schumann (2013) bewerten die eklatanten Stimmengewinne der Nationalsozialisten bei den AStA-Wahlen seit dem Wintersemester 1928/29 – also deutlich vor dem großen Erfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930 – als fatales Fanal:
„Die in diesen Wahlresultaten zum Ausdruck kommende Abwendung eines großen Teils der akademischen Jugend von der Weimarer Demokratie signalisierte bereits vor 1930 einen bedrohlichen psychologischen Machtschwund des Staates von Weimar“.
Mit Blick auf unsere Gegenwart muss es daher sehr ernst genommen werden, dass es Sellner und anderen Vertretern der Neuen Rechten seit der in dem Sezession-Artikel „Was fehlt: ein neurechtes Kontinuum“ (2019) vorgenommenen Standortbestimmung gelungen ist, binnen zweier Jahre einen solchen strukturierten „Zusammenhang“ in Form der GegenUni zu etablieren. Nach wie vor gilt, was 1947 rückblickend der Philologe Victor Klemperer vor dem Hintergrund seiner Alltagserfahrungen im Nationalsozialismus geschrieben hatte:
„Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da“.
Stand: 14.04.2022