LfV-Präsident Bernd Neumann und der hessische Innenminister Roman Poseck bei der Vorstellung des Jahresberichts 2023 des LfV Hessen im Hessischen Landtag

Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2023

Pressemitteilung des Hessischen Ministeriums des Innern für Sicherheit und Heimatschutz vom 2. September 2024:

Vorstellung Verfassungsschutzbericht 2023 / Sicherheitslage insgesamt angespannt / Große Bedrohung durch islamistischen Terrorismus 

Roman Poseck: „Unser Rechtsstaat geht mit Härte und Konsequenz gegen jede Form des Extremismus vor.“

Wiesbaden. Innenminister Roman Poseck hat heute gemeinsam mit dem Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Hessen, Bernd Neumann, den hessischen Verfassungsschutzbericht 2023 vorgestellt und auf verfassungsfeindliche Entwicklungen sowie auf Bedrohungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung hingewiesen. 

Innenminister Roman Poseck zur aktuellen Sicherheitslage: „Die Sicherheitslage ist insgesamt angespannt. Extremisten im Inland und Akteure aus dem Ausland bedrohen unsere Innere Sicherheit. Der Anschlag in Solingen hat uns auf erschreckende Weise vor Augen geführt, dass der Terrorismus nach wie vor eine große Gefahr für unsere Sicherheit ist. Islamistische Terroristen greifen unsere demokratische Gesellschaft an, bedrohen unser friedliches Miteinander und unsere westliche Kultur. Auf diese Herausforderungen braucht es umfassende Antworten. Wir müssen Radikalisierungstendenzen, insbesondere von potenziellen Einzeltätern, noch stärker in den Blick nehmen. Dabei spielen das Internet und die Kommunikation in Chatgruppen eine immer größere Rolle. Um Terrorismus effektiv zu bekämpfen und Anschläge zu verhindern, brauchen unsere Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse, etwa zur Speicherung von IP-Adressen. Die Verschärfung des Waffenrechts, eine deutliche Begrenzung der irregulären Migration und die konsequente Abschiebung ausländischer Straftäter sind weitere Bausteine, um unsere Sicherheit zu erhöhen. Zudem müssen wir unsere Nachrichtendienste stärken. Gerade in der aktuellen sicherheitspolitischen Lage muss der Bund klare und belastbare Rechtsgrundlagen für nachrichtendienstliches Handeln schaffen, beispielsweise hinsichtlich der Ausweitung der Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden. Wir müssen uns unabhängiger von ausländischen Nachrichtendiensten machen und die Möglichkeiten, an eigene Erkenntnisse zu gelangen, ausweiten. Es braucht ein Gesamtpaket für mehr Sicherheit. Der Handlungsauftrag an die Politik ist klar. Die Bundesregierung ist nun am Zug, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Stärkung der Sicherheitsbehörden zu schaffen. In Hessen haben wir bereits kurzfristig auf die Tat in Solingen reagiert und die Polizeipräsenz vor allem bei Veranstaltungen und Festen sichtbar gesteigert. Auch in Zukunft behalten wir die Sicherheitslage im Blick. Wir werden angemessen reagieren und vor allem unsere Sicherheitsbehörden weiter stärken“, so Innenminister Roman Poseck. 

Im Hinblick auf den hessischen Verfassungsschutzbericht 2023 erklärte der Minister: „Die Gefährdungslage durch terroristische Gruppierungen wie den Islamischen Staat und seine Ableger ist weiterhin abstrakt hoch.  Die Zahlen des Verfassungsschutzberichts zeigen eine gestiegene Herausforderung durch den Islamismus: Im vergangenen Jahr hat es 146 islamistische Straftaten gegeben, im Vorjahr waren es 27 gewesen. Das ist ein Anstieg um mehr als das Vierfache. Auch das Personenpotential im Islamismus nahm 2023 um 25 Personen auf 3.890 zu. Der Islamismus lehnt unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ab. Er ist eine Gefahr für unsere Demokratie, unsere offene Gesellschaft und unsere Art zu leben. Daher ist die Bekämpfung des Islamismus und derjenigen, die unsere verfassungsmäßige Ordnung durch ein Kalifat ersetzen möchten, ein Schwerpunkt der hessischen Sicherheitsbehörden. Das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg und des Zentrums für Islamische Kultur in Frankfurt ist bereits ein deutliches Signal des Rechtsstaats gewesen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Verfassungsfeinde unser Land unterwandern. Daher werden wir auch in Zukunft konsequent gegen jede Form des Extremismus vorgehen. Dies gilt insbesondere für jihadistische, aber auch für politische Ausprägungen des Islamismus.“ 

Rechtsextremismus größte Gefahr für Demokratie 

Das extremistische Personenpotenzial in Hessen ist im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 185 auf 13.110 Personen leicht gesunken, allerdings sind die Personenpotenziale außer im Bereich des Islamismus (+25) auch in den Bereichen Rechtsextremismus (+45) und „Reichsbürger- und Selbstverwalter“ (+100) gestiegen. Zudem nahm die Zahl der Straf- und Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr um insgesamt 51 Prozent (+638) zu und lag 2023 bei 1.881. 

Im Bereich Rechtsextremismus ist das Potenzial gewaltorientierter Rechtsextremisten im vergangenen Jahr um 25 auf 905 Personen angestiegen. Die Zahl der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten stieg sogar um 394 auf 1.445 Delikte an. Das sind 37 Prozent mehr, es bedeutet einen Höchststand im Zehn-Jahres-Vergleich. „Die Zahlen sind höchst alarmierend und unterstreichen, dass der Rechtsextremismus die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ist. Jeder zweite Rechtsextremist in Hessen ist gewaltorientiert. Die voranschreitende Radikalisierung der AfD, die der Verfassungsschutz in einigen Bundesländern bereits als gesichert rechtsextremistisch eingestuft hat, hat meines Erachtens einen Anteil daran. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat mit seiner ausführlich begründeten Entscheidung im Mai gebilligt, dass die AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall geführt werden darf. Dass jüngst ein hessischer AfD-Landtagsabgeordneter im Internet offensichtlich den Eindruck erweckt hat, Migrationspolitik mit Waffengewalt betreiben zu wollen, ist ein neuer, höchst alarmierender Tiefpunkt. Alle Demokratinnen und Demokraten sind aufgerufen, diesen Entwicklungen entgegenzutreten und unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu verteidigen.

Wir müssen alle Bedrohungen, die sich gegen unsere Verfassungsordnung richten, gleichermaßen ernst nehmen. Ich halte nichts davon, Bedrohungen gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil: Die aktuelle Zeit ist durch ein außergewöhnliches Zusammentreffen verschiedener hoch gefährlicher Entwicklungen gekennzeichnet. Die Bekämpfung des Islamismus in den Mittelpunkt zu stellen, heißt nicht, den Rechtsextremismus zu vernachlässigen; gleiches gilt umgekehrt. Ich bin den Sicherheitsbehörden in Hessen sehr dankbar, dass sie genauso arbeiten; für sie ist jede extremistische Bestrebung ein Schwerpunkt, unabhängig davon, ob ihr eine islamistische, eine rechts- oder linksextreme Gesinnung zugrunde liegt“, so Roman Poseck. 

LfV-Präsident Bernd Neumann bei der Vorstellung des Jahresberichts 2023 des LfV Hessen

LfV-Präsident Bernd Neumann ergänzte, dass insbesondere in der Neonaziszene eine aggressive Rhetorik und auch Gewalt- und Umsturzfantasien feststellbar seien. Die Aneignung von Kampftechniken sei in der rechtsextremistischen Szene ein Thema mit weiter steigender Bedeutung. Eine Vordenkerrolle spielten aber auch die Ideologen der sogenannten „Neuen Rechten“: „Rechtsextremisten aus dem Bereich der ,Neuen Rechten‘ nutzen Entwicklungen wie die Migration nach Europa  und deren Folgen aus, um bestehende Ängste zu schüren und Ressentiments zu verstärken. Sie würdigen Personengruppen pauschal herab und versuchen, Menschen und Diskurse im Sinne ihrer verfassungsfeindlichen Ideologie zu beeinflussen. Damit befördern sie ihre Ideologie der Ungleichwertigkeit, die die Würde und den Wert eines Menschen nach seiner Herkunft bemisst.“

Die Reichsbürgerszene ist um weitere 100 Personen von 1.100 auf 1.200 gestiegen. „Auch diese Entwicklung ist besorgniserregend. Das Spektrum der Reichsbürger-Szene reicht von Anhängern von Verschwörungsideologien bis hin zu hoch gefährlichen und waffenaffinen Extremisten, die sich zum Teil im Verborgenen radikalisieren und die eine sehr ernsthafte Bedrohung unserer verfassungsmäßigen Ordnung und ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten darstellen. Besonders gefährlich wird es, wenn Reichsbürger Waffen besitzen. Deshalb setzen wir auch hier alles daran, Extremisten zu entwaffnen“, so der Minister.

Spionageabwehr stark gefordert

LfV-Präsident Neumann führte aus, dass das LfV bei der Spionageabwehr so stark gefordert sei wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr: „Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine stehen die russischen Geheimdienste unter hohem Erfolgsdruck und benötigen insbesondere kriegsrelevante Informationen.“ Auch mit russischen Sabotageaktionen, etwa an der Verkehrsinfrastruktur und der Ausspähung von Gegnern der russischen Führung müsse jederzeit gerechnet werden. Zudem sei eine massive Verbreitung pro-russischer Propaganda und Desinformation mit dem Ziel festzustellen, das eigene kriegerische Handeln zu legitimieren. „Das LfV Hessen hat seine Spionageabwehr vor diesem Hintergrund intensiviert und auf die genannten Herausforderungen eingestellt“, sagte Neumann.

„Wir setzen uns mit der neuen Gefahrenlage, die Desinfomationskampagnen, Sabotage und Spionage mit sich bringt, intensiv auseinander. Neue Bedrohungen erfordern neue Antworten. Dazu gehört es auch, unsere Nachrichtendienste besser auszustatten. Es braucht ein Umdenken, wie mit sicherheitsrelevanten und datenschutzrelevanten Informationen im Ernstfall umgegangen wird. Sicherheit darf nicht durch den Datenschutz ausgebremst werden“, führte Innenminister Roman Poseck weiter aus.

Hohe Militanz in der linksextremistischen Szene

Im Bereich des Linksextremismus ist das Personenpotenzial 2023 insgesamt zwar leicht um 50 Personen auf 2.600 gesunken; das Potenzial der gewaltorientierten Personen ist hingegen von 600 auf 720 gestiegen.

„Im Bereich des Linksextremismus ist eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft festzustellen. Insbesondere Angehörige der autonomen Szene bekämpfen den Staat und politische Gegner teils mit gezielter Gewalt und greifen anlassbezogen auch Polizisten an. Teile der linksextremistischen Szene versuchen auch, Einfluss auf die Klimaprotestbewegung zu nehmen, um Personen zu ideologisieren und sie letztlich zum gewaltsamen Kampf gegen den Staat zu motivieren. Auch hier muss der Rechtsstaat hart durchgreifen“, sagte der Minister.

LfV-Präsident Neumann berichtete, dass sich die Aktivitäten der linksextremistischen Szene im Berichtsjahr insbesondere gegen politische Parteien, aber auch gegen Burschenschaften richteten. Vor der hessischen Landtagswahl 2023 waren verstärkt militante Aktionen wie zum Beispiel Brandstiftungen zum Nachteil politischer Parteien und insbesondere der AfD festzustellen.

„Die Militanz in der Szene und die Gefahr wechselseitiger Auseinandersetzungen zwischen Rechts- und Linksextremisten ist hoch“, betonte Neumann. Daher behalte das LfV die Situation genau im Blick.

Im Jahr 2023 stieg die Zahl antisemitischer Straftaten in Hessen um 224 Prozent auf 347 an. „Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist der Antisemitismus wieder erschreckend sichtbar geworden. Viele Straftaten werden auf Versammlungen begangen. Auf diesen wird das Existenzrechts Israels geleugnet und letztlich zur Zerstörung des Staates Israel aufgerufen. Im Hinblick auf solche Äußerungen habe ich mich auf der Innenministerkonferenz für einen strafrechtlichen Schutz des Existenzrechts Israels im Kontext von Versammlungen eingesetzt. Das Leugnen des Existenzrechts Israels sollte meiner Meinung nach unter Strafe gestellt werden. Dies würde es auch den Versammlungsbehörden erleichtern, rechtssichere Verbote von Versammlungen auszusprechen, die zur Vernichtung des Staates Israel aufrufen“, so Innenminister Roman Poseck.

LfV-Präsident Neumann betonte, dass antisemitische Narrative in allen Extremismusbereichen festzustellen seien. Ob sich im hessischen Protestgeschehen seit dem 7. Oktober 2023 Allianzen über die Extremismusbereiche hinweg bildeten, untersuche die wissenschaftliche Analysestelle PAAF des LfV Hessen aktuell im Rahmen eines Forschungsprojekts. Beispielweise könnten bei Kundgebungen gegen Israel Allianzen von Personen aus den Bereichen Linksextremismus, Extremismus mit Auslandsbezug und Islamismus entstanden sein. Es bestehe die Gefahr, dass Extremisten verschiedener Couleur Zweckbündnisse eingehen, um mit ihren antisemitischen und israelfeindlichen Standpunkten eine höhere Reichweite zu erzielen. Generell gelte für den hessischen Verfassungsschutz die Devise: „Kein Raum für Extremismus“, die auch als Motto über der Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit steht.

Hessens Innenminister Roman Poseck bei der Vorstellung des Jahresberichts 2023 des LfV Hessen

Abschließend betonte Innenminister Roman Poseck: „Unser Rechtsstaat geht mit Härte und Konsequenz gegen jede Form des Extremismus vor. Politik und Gesellschaft sind aufgerufen, unsere Demokratie zu schützen und extremistische Bestrebungen zu bekämpfen. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet hierbei einen wichtigen Beitrag. Es sind aber alle in unserer Gesellschaft aufgefordert dazu beizutragen, dass Toleranz, Respekt und friedliche Umgangsformen gelebt und berücksichtigt werden. Nur gemeinsam werden wir unsere demokratischen Werte gegen vielfältige Bedrohungen effektiv verteidigen.“

 

Personenpotenzial, Straf- und Gewalttaten in den extremistischen Phänomenbereichen

 Personenpotenzial Straftaten Gewalttaten 
 202220232022202320222023
Rechtsextremismus1.7301.7751.0511.4455048
Islamismus 
(davon Salafisten)
3.865 
(1.370)
3.890 (1.400)2714613
Linksextremismus2.6502.6007913899
Extremismus mit Auslandsbezug4.1003.7953710506

 

Erläuterung zur Tabelle

Personenpotenzial: Zum Gesamtpersonenpotenzial von 13.110 (2021: 13.680 / 2022: 13.295) zählen auch noch die 1.200 sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter (Personenpotenzial 2021: 1.000 und 2022: 1.100), die eine Schnittmenge mit dem rechtsextremistischen Personenpotenzial aufweisen.

Straf- und Gewalttaten: Extremistisch motivierte Straftaten bilden eine Teilmenge der Straftaten der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität“. Bei extremistisch motivierten Straftaten handelt es sich um diejenigen Straftaten, bei denen es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie darauf abzielen, bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, die für die freiheitliche demokratische Grundordnung prägend sind.